Amedeo Modigliani

Amedeo Modigliani «Cariatide»
20.04.2022

Amedeo Modiglianis «Karyatide» aus der Sammlung Rosengart wurde um 1913/14 gezeichnet und zählt zu den insgesamt 1000 Werken auf Papier des italienischen Künstlers. Nach dem antiken römischen Autor Vitruv waren solche weiblichen Trägerfiguren als Schmuck für prunkvolle Häuserfassaden gedacht. Wie auch in dieser Zeichnung zu erkennen, stützten diese das Gebälk oder den Giebel eines Gebäudes auf Händen. Ihr Name rührt – laut Vitruv – von der Stadt Karyai in Lakonien, in der Frauen versklavt und zur Zwangsarbeit mit diesen Lasten verurteilt worden. Offenbar hatte Modigliani zunächst auch die Realisierung eines derartigen Tempels mit allegorischen Figuren im Sinn. Auf dem mittelgrossen, hochformatigen Blatt ist der kniende weibliche Akt mit schmaler Taille und ovalen Schenkeln und Waden in einer sehr klaren, strengen s-förmigen Linie wiedergegeben. Die sinnlich wirkende Figur mit archaischen Gesichtszügen und den zu einem Knoten nach hinten gekämmten Haaren trägt die Last scheinbar mühelos. Die hinter dem Kopf verschränkten Arme, der leicht zur Richtung des Betrachters gedrehte Oberkörper und die nach links gerichteten Beine wirken sehr dynamisch. Die geschlossenen Augen der grazilen, anmutigen Figur strahlen hingegen Ruhe aus. In dem nicht weiter definierten Blatt sticht die dominante Umrisslinie hervor. Durch die unzähligen Schraffuren erhält die nur mit Blaustift ausgeführte Zeichnung einen dreidimensionalen Effekt. Erstaunlicherweise sind der schwungvolle nach links gebogene Rücken sowie Ober- und Unterkörper aus freier Hand gezeichnet. Inspiriert wurde der Zeichner-Bildhauer in dieser Zeit durch die damals nach Europa gelangte afrikanische Stammeskunst, durch die antiken, griechischen Kykladenskulpturen sowie durch die ägyptische Kunst, die er ausgiebig und mit grossem Enthusiasmus im Louvre studierte. Was für ein Glück, dass der Betrachter diese sogar auch im Herzen von Luzern bewundern kann.

Autor: Kerstin Bitar
Abgebildet in: Rosengart, Angela (Hrsg.): Sammlung Rosengart. München 2002, S. 46.

Amedeo Modigliani «Cariatide», um 1913/14
Blaustift auf Papier 55,8 × 45,2 cm