Luzerns liebste Kugel

Trouvaillen, Museum Luzern

Luzerns liebste Kugel

27.05.2020

«Wie Ihnen (…) bekannt ist, spuckten die Drachen lange Zeit gewaltig in den Köpfen der Luzerner». So beginnt M. A. Feierabends naturkundliche Abhandlung über den Luzerner Drachenstein zuhanden der Schweizerischen Naturforschenden Gesellschaft, die im Jahr 1862 ihre Jahrestagung in Luzern abhielt. Auch Feierabend kam nicht umhin, den sagenhaften Ursprung dieses Phänomens zu erwähnen und sich dabei auf Renward Cysat (1545-1614), den wohl berühmtesten Stadtschreiber Luzerns, zu beziehen. Letzterer hatte die Geschichte des Drachensteins erstmals aufgezeichnet. «In einer Schweti geronnenen Blutes» soll der Drachenstein im Jahre 1420 über dem Pilatus abgeworfen worden sein. So Bauer Stempflin aus Rothenburg. Er habe einen feurigen Drachen beobachtet der von der Rigi zum Pilatus flog und dabei eine sulzartige Masse abwarf, woraus Bauer Stemplin mit seinem Heurechen einen runden Stein herausfischte. 1509 kaufte der Gerichtsschreiber und Wundarzt Martin Schryber den Stein einem Nachkommen Stempflins ab. 1523 liess sich Schryber die Heilkräfte des Drachensteins, durch den Schultheiss und Rat von Luzern urkundlich bezeugen. Nach Schrybers Tod 1527 wechselte der Drachenstein mehrfach den Besitzer bis der Kanton Luzern ihn 1929 von der Familie Meyer von Schauensee erwarb. Im Grenzbereich zwischen Mythos und Naturwissenschaften hat der Stein seit der Zeit seiner «Materialisierung» für Spekulationen über seine Herkunft und Beschaffenheit gesorgt. Namhafte Wissenschaftler aus ganz Europa rätselten über sein Innenleben. Johann Jakob Scheuchzer (1672 – 1733) und Moritz Anton Kappeler (1685 – 1769) sahen darin einen vom Menschen bearbeiteten Kieselstein. In seiner «Itinera alpina» von 1723 bezeichnet Scheuchzer den Drachenstein als «die merkwürdigste aller Merkwürdigkeiten aller Museen». Der deutsche Physiker und Begründer der Meteoritenforschung Ernst Chladni folgerte 1819, dass es ein Steinmeteorit sei. Erst 2006 brachte die EMPA mittels Computertomografie Klarheit: es ist eine gebrannte Tonkugel ohne Meteoritenkern; die Tonbeschaffenheit entspricht historischen Tonscherbenfunden aus dem 15. Jahrhundert (Hotz, 2007). Wie auch immer: Bauer Stempflin dürfte wohl darüber schmunzeln, dass seine Kugel auch 600 Jahre später nichts an Faszination verloren hat – und sich freuen, dass niemand die Kugel aus wissenschaftlicher Neugier zerstört hat, um hinter ihre Geheimnisse zu kommen.

Text: Britta Allgöwer, Natur-Museum Luzern

Quellen: Feierabend, M. A., 1862. Der Luzerner Drachenstein. Naturgeschichtliche Abhandlung. In: Verhandlungen der Schweizerischen Naturforschenden Gesellschaft, Band (46 (1862), p. 89 – 97 / Hotz, B., 2007. Neuste Untersuchungen am Luzerner Drachenstein. Mitteilungen der Naturforschenden Gesellschaft Luzern, Band 38 (2007), Willisau, p. 8 – 17 / Scheuchzer, J. J., 1723. Ouresiphoites Helveticus, sive, itinera per Helvetiae alpinas regiones Facta annis MDCCII, MDCIII, … In quatuor tomos distincta, Lugduni Batavorum [Leiden], MDCCXXIII [1723]

Luzerns liebste Kugel: 600 Jahre Rätselraten über 251.84 g und 60.2 mm Durchmesser, 15. Jh.
Gebrannte Tonkugel ohne Meteoritenkern, 251.84 g, 60.2 mm Durchmesser und das Eingangsbuch des Natur-Museums Luzern (Bild: © Josh Westrich, flowercards.de, Fotoatelier Josh Westrich, Köln/Luzern)