Hans Erni (1909-2015) 
Trouvaillen aus den Luzerner Museen, Hans Erni Museum
18.08.2021

Anfang der 1940er-Jahre siedelt Hans Erni viele seiner Kompositionen in einer kargen, wüstenähnlichen Landschaft an: Ob er den Gleiter des Flugpioniers Otto Lilienthal nach einem Absturz zerbeult am Boden liegen lässt oder ein surrealistisches Stillleben aus Schädelfragment, Gehörschnecke und Ohrmuschel auf sandigem Grund platziert – nie ist eine nähere geographische Lokalisierung möglich. Dadurch hebt er die Darstellungen auf eine überzeitliche Ebene, lässt sie neben Verweisen auf Kriegsgräuel in anderen Werken dieser Zeit zu symbolischen Bildern für die Bedingungen menschlichen Lebens werden.

Dies gilt auch für Knabe mit Papierdrachen: Das querformatige Gemälde zeigt einen feingliedrigen Jungen, der die Schnur eines einfachen Papierdrachens entwirrt. Im Vordergrund liegt ein grosses hölzernes Wagenrad, abgebrochen von der Achse, von einem Holzstumpf leicht in die Höhe gehoben. – Die Darstellung ist, wie viele Bilder Ernis dieser Jahre, vieldeutig: Einerseits mag man das eisenbereifte Wagenrad als Symbol für die im Europa dieser Jahre allgegenwärtige Zerstörung verstehen. Der Knabe mit seinem Papierdrachen kann als Zeichen für den Lebenswillen des Menschen, der auch unter schwierigsten Bedingungen kleine Momente der Freude im Spiel sucht, gedeutet werden. Das marode Rad mit seinen schweren, balusterartigen Speichen ist ein Relikt, symbolisiert das altertümliche Fortbewegungsmittel früherer Jahrhunderte, das im zwanzigsten Jahrhundert längst durch die Flugtechnik abgelöst worden ist. Der kleine Knabe spielt mit dem einfachsten Fluggerät; Hans Erni wird sechs Jahre später das Pilotenbrevet erwerben und die Landschaft, Berge und Gletscher aus der Vogelschau erkunden. Diesen Deutungen folgend, drückt sich im Bild die optimistische Hoffnung des Künstlers auf Fortschritt und Zukunft aus.

Autor: Heinz Stahlhut

Bildlegende: © Hans Erni-Stiftung, Luzern; © Foto: Andri Stadler, Luzern