Romeo und Julia, 1956

Trouvaillen aus den Luzerner Museen, Hans Erni Museum
23.12.2020

1955 erschien im linken Genfer Verlag Cooperative d’Imprimerie das Buch Über das sowjetische Ballett der russischen Primaballerina Galina Ulanowa (1910-1998). Die Illustrationen lieferte Hans Erni, der zuvor mehrfach den Proben des auch im Ausland gastierenden Ballett-Ensembles des Moskauer Bolschoi-Theaters beigewohnt hatte.

Der Tanz der in der Sowjetunion mit Ehrungen überhäuften Ballerina inspirierte viele Künstler. Es heisst, Sergei Prokofjew (1891-1953) sei beim Komponieren der Musik zu seinem Ballett Romeo und Julia von der Ulanowa angeregt worden; diese tanzte 1940 bei der Premiere von Prokofjews Werk denn auch die Julia.

Im Jahr nach Erscheinen der erwähnten Publikation schuf Hans Erni ein grossformatiges Gemälde mit dem Titel der von William Shakespeare (1564-1616) verfassten Tragödie über das unglückliche Liebespaar. Shakespeares Bühnenstück war die Vorlage zu Prokofjews Ballett. Das Bild zeigt vor nahezu monochrom sandfarbenen Hintergrund eine am Boden liegende weibliche Gestalt, über die sich eine männliche Figur mit klagend vor das Gesicht geschlagenen Händen beugt. Die Kleidung – ein kurzes, leichtes Kleid bei der Frau, hautenge Hosen beim Mann sowie Ballettschuhe – verorten das Geschehen auf der Tanzbühne. Dargestellt ist die Schlussszene des Balletts: Um mit ihrem Geliebten fliehen zu können, hat sich Julia einen Trank eingeflösst, der sie in einen todesähnlichen Schlaf versetzt. Romeo, der den Fluchtplan nicht kennt und Julia vermeintlich tot vorfindet, bricht in Trauer aus und begeht Selbstmord. Julia, aus der Betäubung erwachend, folgt Romeo ihrerseits in den Tod.

Effektvoll hat der Maler die für ihr ausdrucksstarkes Gestenspiel berühmten Hände der Ulanowa so ins Bild gesetzt, dass sie die Gruppe rechts und links einfassen. So spielt die Ballerina in diesem Bild die Hauptrolle, obwohl sie gerade nicht in einer tänzerischen Aktion gezeigt wird. Sowohl vom Format als von der Gestaltung her – die Figuren vor einem mit Abklatschverfahren gestalteten Grund, in dem Räumlichkeit durch wenige Linien angedeutet ist –, reiht sich dieses Bild in die Gruppe grossformatiger Bildnisse von Hans Erni ein: Historische Figuren wie Leonardo da Vinci oder Friedrich Schiller sowie Zeitgenossen des Künstlers wie Albert Einstein oder Arturo Toscanini. Diese Gemälde entstanden zwischen 1955 und 1957 – insofern ist auch dieses Bild als Porträt der Galina Ulanova in ihrer Paraderolle zu deuten.

© Hans Erni-Stiftung, Luzern
© Foto: Andri Stadler, Luzern
Text: Heinz Stahlhut

Hans Erni (1909-2015):
Romeo und Julia, 1956,
Öl auf Leinwand, 200 x 180 cm
Hans Erni-Stiftung, Luzern